L. Erren: Der Russische Hof nach Petr dem Großen 1725–1730

Cover
Titel
Der Russische Hof nach Petr dem Großen 1725–1730. Eine Kulturgeschichte des Politischen


Autor(en)
Erren, Lorenz
Erschienen
Anzahl Seiten
679 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniela Mathuber, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS), Regensburg

Peter I. („der Große“) gilt bis heute als Überfigur der russländischen Geschichte, unabhängig davon, ob die Bewertung seiner Person im Einzelnen positiv oder negativ ausfällt. Seine Regierungszeit wird nach wie vor intensiv beforscht, während die ersten Jahre nach seinem Tod 1725 wenig bemerkenswert erscheinen.1 Das liegt zum einen daran, dass Peters Witwe Katharina I. das Szepter ihren Günstlingen überließ und Peters Enkel Peter II. minderjährig war, zum anderen daran, dass beide mit zwei bzw. drei Jahren nur kurz an der Macht waren. Dessen ungeachtet beschäftigt sich Lorenz Erren in seiner Habilitationsschrift mit diesen postpetrinischen Regierungszeiten. Es geht ihm aber nicht darum, nachzuweisen, dass sie für die Geschichte des 18. Jahrhunderts eigentlich doch wichtig gewesen wären, sondern darum, herauszuarbeiten, wie die Zeitgenossen mit dem petrinischen Erbe umgingen, warum sie manche Elemente davon beibehielten und andere zurückwiesen oder veränderten.

Wie der Untertitel verrät, versteht sich die Monografie als Kulturgeschichte des Politischen. Im Sinn von Barbara Stollberg-Rilinger meint Kulturgeschichte dabei eine vom Untersuchungsgegenstand unabhängige Sichtweise, die es erlaubt, den Einfluss von gesellschaftlichen oder individuellen Prägungen der Akteur:innen auf das politische Geschehen nachzuzeichnen. Diesen Zugang verbindet Lorenz Erren mit einer dichten Beschreibung nach Clifford Geertz, das heißt, er wählt einen für die Geschichtswissenschaft relativ kurzen Zeitraum von fünf Jahren, um diesen dafür umso detaillierter zu untersuchen und beispielsweise auch verworfene politische Projekte einzubeziehen. Seine wichtigste Quelle bilden die Gesandtschaftsberichte aller zehn damals im Russländischen Reich vertretenen Länder. Erren hat sie, soweit sie heute noch vorhanden sind, zur Gänze gelesen und miteinander abgeglichen. Die Notwendigkeit, für eine derartige Fragestellung auf Fremdzeugnisse zurückzugreifen, ergibt sich daraus, dass Tagebücher, Memoiren oder über das rein Formelhafte hinausgehende Briefe im Russländischen Reich am Beginn des 18. Jahrhunderts noch vergleichsweise selten verfasst wurden.

Der Hauptteil ist thematisch gegliedert, sodass die sechs Kapitel auch in einer anderen Reihenfolge gelesen werden könnten, um die Argumentation zu verstehen. Sie befassen sich mit Religion und Kirche, dem Staatsverständnis im Moskauer und Russländischen Reich, dem Adel, Nachfolgeregelungen, der russländischen Politik gegenüber Holstein und der Regierungszeit Peters II.

Unabhängig vom Forschungsprogramm ist es zu begrüßen, dass nun eine neue Untersuchung zur Regierungszeit Katharinas I. und Peters II. vorliegt. Wer sich etwa für die äußere Ereignisabfolge von Peters Herrschaft interessiert (und des Russischen mächtig ist), landete bisher unweigerlich bei Igor’ Kurukin2, dessen Monografie mittlerweile 20 Jahre alt und bislang das einzig verlässliche Referenzwerk darstellt.

Das Erkenntnisinteresse der Monografie Errens ist innovativ. Die Frage etwa, was eigentlich unmittelbar nach dem Tod Peters I. mit dessen politischem und kulturellem Erbe geschah, und warum die Zeitgenossen damit so umgingen wie sie es taten, ist ungemein erhellend. Peter I. veränderte das Moskauer Reich zwar tiefgreifend und dauerhaft, nichtsdestoweniger erwies sich eine Reihe seiner Vorhaben als kurzlebig. Ein Beispiel wäre der Umbau des russischen Wortschatzes, der durch Peters Reformen anwuchs und auch anwachsen musste, um die neuen Realien benennbar zu machen. Ein Großteil der Neologismen kam allerdings bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wieder außer Gebrauch.3 Nichtsdestoweniger wird üblicherweise nur das Ergebnis der Veränderung konstatiert, aber nicht hinterfragt, wie es dazu kam und welche die Beweggründe waren.

Auch der historiografische Fehdehandschuh, den Lorenz Erren in der Einleitung wirft, verdient Beachtung. Er macht darauf aufmerksam, dass Historiker:innen die Abfolge von Aufklärung und aufgeklärtem Absolutismus unbewusst für die Norm halten, nicht zuletzt deswegen, weil beide als notwendige Etappen der staatlichen Entwicklung auf dem Weg zum demokratischen Rechtsstaat gelten. Russland wirke auf diese Weise automatisch defekt, weil es die entsprechende Entwicklung später, aus westeuropäischer Perspektive unvollständig oder auf der Grundlage anderer Voraussetzungen vollzog.4 Die Monografie ist der Versuch, Russland so nahe an den Quellen wie möglich und damit aus sich selbst heraus zu beschreiben und zu analysieren. Ob beabsichtigt oder nicht, erweist sie sich damit als hochaktuell, weil Errens Argumente zu unbewussten Vorannahmen mit den Debatten über Eurozentrismus, den kolonialen Blick und die Fehlannahmen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen, in Verbindung gesetzt werden können.

Auf implizite Selbstverständlichkeiten hinzuweisen, auf denen Schlussfolgerungen aufbauen, ist in jedem Fall erhellend. Lorenz Erren zeigt etwa, dass den Bewohner:innen des Moskauer Reiches mitnichten ein Ehrbegriff gefehlt habe, sondern sich dieser lediglich so deutlich vom westeuropäischen unterschied, dass er Ausländern nicht vorhanden zu sein schien. Stellenweise wirkt es aber – ungeachtet der stets ausgefeilten Argumentation – als solle einfach der Spieß umgedreht und das vermeintlich rückständige Russland als das eigentlich aufgeklärte, rationale und effizient organisierte Gemeinwesen präsentiert werden. Solche Wertungen helfen der Sache nicht; die aus den Quellen erarbeiteten Unterschiede könnten auch für sich sprechen.

Wie vom Autor angekündigt, bekommen es die Leser:innen mit einer geschichtswissenschaftlichen dichten Beschreibung zu tun. Allerdings zeigt die Monografie auch, dass eine solche wesentlich sperriger ist als die Vorbilder aus der Feder von Clifford Geertz. Die Details der unzähligen politischen Entscheidungsfindungsprozesse machen das Lesen eher mühsam und die Kapitel über weite Strecken zu einer hochspezialisierten Sache, die wohl nur diejenigen mit Gewinn lesen werden, die gerade zum jeweiligen Thema arbeiten. Für alle anderen wird es schnell zu dicht, zu minutiös aufgefächert.

Die Herangehensweise unterhöhlt auch das erklärte Ziel, den Umgang mit dem petrinischen Erbe im Zeitraum 1725 bis 1730 zu beleuchten. Selbstverständlich ist es notwendig, dafür eine Basis zu schaffen und zu erläutern, worin dieses Erbe überhaupt bestand. Allerdings behandelt Lorenz Erren die Maßnahmen von Peter I. im Sinn der dichten Beschreibung so ausführlich, dass das innere Gleichgewicht der Kapitel kippt. Die ersten drei Kapitel lassen sich als Studien zu Peters Regierungszeit mit einem kurzen Ausblick in die ersten Jahre danach begreifen. Im vierten und fünften Kapitel werden zwar die Maßnahmen Katharinas I. durchaus ausführlich behandelt, jedoch nimmt die Regierungszeit ihres Mannes immer noch den überwiegenden Raum ein. Nur das sechste Kapitel kommt ohne Rückgriffe auf Peter I. aus. Zwar ist Lorenz Erren auch so in der Lage, neue Erkenntnisse über den Zeitraum 1725 bis 1730 zu vermitteln, aber zum Teil verschiebt sich der Fokus der Untersuchung zu stark von diesen fünf Jahren hin zu Peter I.

Außerdem stellt sich zumindest teilweise die Frage, ob die dichte Beschreibung einen substantiellen Mehrwert für das Verständnis der Zeitgenossen liefern kann. Sicher ist eine sorgfältige und möglichst vollständige Lektüre der Quellen ein Gegenmittel gegen voreilige Schlüsse und Vereinfachungen. Das zeigt sich besonders im Kapitel über die russländische Politik gegenüber Holstein. Aber speziell im ersten Kapitel bleibt unter anderem bei der Kirchenpolitik Peters I. oder bei der Errichtung von Senat und Synod der Eindruck bestehen, dass Lorenz Erren seinen Anspruch, aufgrund der maximal breiten Quellenbasis näher an die Beweggründe der Zeitgenossen heranzurücken als andere Autor:innen, nicht einlösen kann.

So bleibt festzuhalten, dass Lorenz Erren einen großen Wurf gewagt hat, der aber nicht vollständig geglückt ist. Es ist eine enorme Leistung, sich mit allen geschilderten und analysierten Details vertraut zu machen und diese in einem Text zu organisieren. Hingegen ist nicht immer überzeugend, dass eine solche Herangehensweise einen Mehrwert an Erkenntnis erbringt, der über andere Zugänge hinausginge. Dieses hochspezialisierte Werk ist vor allem Russlandhistoriker:innen zu empfehlen, die gerade selbst zu verwandten Themen arbeiten; Teile können aber auch für ein breiteres Fachpublikum nützlich sein. Die Einleitung und das Kapitel über den Adel dürften für alle interessant sein, die sich mit „dem Absolutismus“ oder der Kulturgeschichte des europäischen Adels befassen, während das Kapitel über Holstein allen Denkanstöße bietet, die zu Schweden am Beginn des 18. Jahrhunderts forschen.

Anmerkungen:
1 Zwei neuere Monografien über die Regierungszeit Peters I. sind Robert Collis, The Petrine Instauration. Religion, Esotericism and Science at the Court of Peter the Great, 1689–1725. Leiden 2012; Emmanuel Waegemans, Putešestvie Petra I po južnym Niderlandam v 1717 godu. Obraz russkogo carja v Bel’gii. Sankt Peterburg 2020.
2 I. V. Kurukin, Epocha „dvorskich bur’“. Otscherki polititscheskoj istorii poslepetrovskoj Rossii. Rjazan’ 2003.
3 Das Standardwerk dazu ist Fred Otten, Untersuchungen zu den Fremd- und Lehnwörtern bei Peter dem Großen. Köln 1985.
4 Am Rande sei bemerkt, dass sich Lorenz Erren zwar am gängigen Bild von Aufklärung und aufgeklärtem Absolutismus abarbeitet, aber die Debatte rund um den Begriff Absolutismus mit keinem Wort erwähnt. Diese wäre ein wichtiger Baustein seines Arguments, denn nach der althergebrachten Auffassung hätte es ohne Absolutismus keine Aufklärung und ohne Aufklärung keinen aufgeklärten Absolutismus gegeben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension